Wolfgang Welsch

Epistemischer Anthropozentrismus
Zur Denkform der Moderne und ihrer Kritik

Vortrag am 03. November 2004

Madrid, Círculo de Bellas Artes



ausführliche Fassung: W. W., Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie (Berlin: Akademie 2011), 171-185.


Diderot hat 1755 das grundlegende Axiom des modernen Denkens formuliert: "Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muß." Kant hat dieser Denkform 1781 in der Kritik der reinen Vernunft ihre perfekte epistemologische Legitimation verliehen: All unsere Gegenstände sind grundlegend durch die apriorischen Formen des menschlichen Erkennens (Anschauungs­formen und Kategorien) bestimmt. Daher können wir in unserer Erfahrung nur menschlich geprägten Gegenständen begegnen und darüberhinaus auch andere Gegenstände (Ding an sich, Gott etc.) nur menschlich gefärbt imaginieren. "Wir können nicht anders als zu anthropomorphosieren" - "Wir machen alles selbst". - Die Welt ist eine menschliche und darin eine geschlossene Welt. Der Mensch bildet das Maß der Welt.

Diese anthropische Denkweise durchherrscht die Moderne seit zweihundertfünfzig Jahren. Bei aller Vielfalt im einzelnen bildet sie den gemeinsamen und verbindlichen Nenner des modernen Denkens. Das wird exemplarisch am Historismus, an Nietzsche, an den zeitgenössischen Human- und Kulturwissenschaften sowie an der analytischen Philosophie gezeigt. - Die massiven Einsprüche Freges und Husserls oder Foucaults gegen die anthropische Denkform haben nichts gefruchtet: Frege konnte seine absolute Konzeption des Logischen nicht wirklich plausibel machen, und Husserl und Foucault sind selbst wieder ins Fahrwasser der anthropischen Denkform zurückgekehrt. (Heideggers Kritik wird im zweiten Vortrag behandelt.)

Offensichtlich lähmt diese moderne Denkform das Denken. Man weiß immer schon die Antwort auf alle Fragen; sie lautet: "Es ist der Mensch." Zudem ist diese Denkweise logisch inkonsistent: Die Behauptung, daß all unser Erfahren und Erkennen menschlich gebunden ist, ließe sich nur aus einer ungebundenen Perspektive aufstellen, aber eben eine solche soll uns prinzipiell verwehrt sein; und das Dekret, daß wir alles nur nach menschlicher Art erkennen können, beruht auf einer falschen Gleichsetzung von Zugangs- mit Geltungs­bedingungen. - Es besteht aller Anlaß, über die Denkform der Moderne hinauszugelangen. Ein möglicher Weg dazu wird am Ende des zweiten Vortrages aufgezeigt werden.