Wolfgang Welsch

Inwiefern Heidegger - bei aller Kritik - der modernen Denkform verhaftet blieb

Vortrag am 03. November 2004

Madrid, Círculo de Bellas Artes



ausführliche Fassung: W. W., Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie (Berlin: Akademie 2011), 186-199.


Heidegger ist als großer Kritiker der Moderne bekannt. Er wurde des Anthropozentrismus der Moderne aufs deutlichste gewahr. Seine Kritik galt der Tendenz der Anthropologie, "alles Wirkliche zuerst und zuletzt auf den Menschen" zu beziehen, alles "vom Menschen aus und auf den Menschen zu" zu erklären.

Gegen diese moderne Tendenz, die Anthropologie zur "Grunddisziplin der Philosophie" zu machen, wandte Heidegger insbesondere ein, daß der Mensch dabei wesentlich unterbestimmt bleibe. Es fehle die Einsicht, daß der Mensch gar nicht allein von sich aus verstanden werden könne, und zwar deshalb nicht, weil "er mehr ist als der bloße Mensch" - "so etwas wie einen Menschen, der einzig von sich aus nur Mensch ist, gibt es nicht". Der Mensch müsse vielmehr aus dem Bezug zum Sein bestimmt werden, und dabei habe nicht der Mensch, sondern das Sein die Führung. Dem "Bezug des Seins zum Wesen des Menschen" nachzudenken, war zeitlebens das große Thema Heideggers.

Was aber ändert sich wirklich, wenn man den Menschen nicht mehr einfach von ihm selbst her, sondern aus seinem Seinsbezug bestimmt? Gewiß wird die herkömmliche Anthropologie überboten. Aber an ihre Stelle tritt erneut eine Anthropologie - nur eine tiefere, eine seins-akzentuierte Anthropologie, eine Onto-Anthropologie. Heidegger zielt nur darauf, statt des defizitären traditionellen endlich ein genuines und volles Verständnis des Menschen zu etablieren. Aber der Rahmen, innerhalb dessen dieses Verständnis des Menschen dann zum Tragen kommt, bleibt unverändert. Weiterhin soll gelten, daß das Verständnis des Menschen allem zugrundzulegen ist. Heidegger hat nur die Interpretation des Menschen verändert, aber er hat nicht die anthropische Denkform der Moderne überschritten.

Abschließend wird ein Weg skizziert, wie man diese Denkform wirklich hinter sich lassen könnte. Der Schlüssel dazu liegt in einem Verständnis des Menschen nicht nur von der Geschichte, sondern von der gesamten Evolution (vom vollen Umfang der "Seins­geschichte") her. Auf diese Weise hebt sich der Anschein einer bloßen Menschartigkeit unseres Weltbezugs auf.