Wolfgang Welsch
Appeared in: Zunächst werden Sinn und Recht der jahrtausendealten Unterscheidung von nous gegenüber dianoia (oder logos), intellectus gegenüber ratio und, in neuerer Terminologie, Vernunft gegenüber Verstand bzw. reason gegenüber rationality erläutert. Logisch-rationale Verfahren stoßen bei der Sicherung der alles argumentative Verfahren tragenden ersten Grundlagen an eine Grenze. Daher muß diese Aufgabe durch eine andere, nicht beweishaft verfahrende Geistestätigkeit erfüllt werden: durch Vernunft. Diese traditionelle Aufgabenverteilung erfuhr in Kants theoretischer Philosophie eine einschneidende Veränderung: fortan sollte es der Verstand sein, der die konstitutiven Prinzipien der Erkennntnis bereitstellt - Vernunft hingegen wird dialektisch-problematisch und für die theoretische Erkenntnis zunehmend entbehrlich. So gesehen, ist das gegenwärtige "farewell to reason" - das viele moderne wie postmoderne Positionen kennzeichnet und demzufolge voll entfaltete Rationalität sämtliche Fragen beantworten können soll, so daß für Vernunft schlicht kein Raum und keine Aufgabe mehr verbleibt - eine Zuspitzung und Spätfolge der von Kant initiierten Umstellung. Zeitgenössische Rationalitätsverständnisse zeigen in der Tat, daß Rationalität die klassische Rolle der Vernunft - die der Bereitstellung der tragenden Prinzipien der einzelnen Rationalitätstypen bzw. Rationalitätsparadigmen - übernommen hat. Im Unterschied zu darauf gestützten Pauschalabsagen an Vernunft wird hier jedoch in anderen Hinsichten für eine Wiederaufnahme des Vernunftthemas plädiert. Beispielsweise kann die Klärung des Verhältnisses der Rationalitätstypen (auch den eigenen Prämissen der Vertreter solcher Theorien zufolge) nicht von einem einzelnen dieser Typen aus erfolgen, sondern verlangt eine grundsätzlich anders ausgerichtete, neutrale Reflexionsart, die nicht einem dieser Rationalitätstypen näher stehen darf als einem anderen. Der Schluß von der Entbehrlichkeit der Vernunft für die Vorgabe von Rationalitätsprinzipien auf die Entbehrlichkeit von Vernunft überhaupt ist einer der grundlegendsten Fehlschlüsse der heute verbreiteten Rationalitätstheorien. Freilich geht es um Vernunft in einem gewandelten Sinn, sofern deren Aufgabe in der Tat nicht mehr in der Bereitstellung von Prinzipien gesehen wird (diese Aufgabe haben die einzelnen Rationalitätstypen zu Recht übernommen), sondern in der gleichgewichtigen Analyse von Rationalitätstypen und im Übergang zwischen diesen. Wegen dieses eher horizontalen als vertikalen Aktionsmodus und im Blick auf die spezifische Leistung von Übergängen bezeichne ich diese Vernunftform als "transversale Vernunft". Ist das Thema Vernunft durch den Aufweis des blinden Flecks der Rationalitätstheorien erst einmal wiedereröffnet, so tritt der breite Aufgabenbereich solcher Vernunft zutage. Er reicht von spezifisch philosophischen Fragestellungen bis hin zur Alltagsorientierung unter zeitgenössischen Bedingungen. Transversale Vernunft ist in besonderer Weise für Situationen der Pluralität geeignet, weil nur sie einer Betrachtung fähig ist, die den pluralen Formen gleichermaßen gerecht zu werden vermag. Sofern Pluralität heute schier allenthalben besteht (theoretisch, kulturell, lebensweltlich etc.), scheint transversale Vernunft die probate Vernunftform der Gegenwart zu sein. Im übrigen machen die Zeitgenossen schon weitaus mehr von solch transversaler Vernünftigkeit Gebrauch, als man sich in philosophischen Zirkeln derzeit gemeinhin träumen läßt. |